Von Denise Kopyciok
Erschienen am 25.05.2019 in der Allgemeinen Zeitung
Die Sternenwiese auf dem Alzeyer Friedhof ist eine ganz besondere Gedenkstätte: Totgeborene finden dort ihre letzte Ruhe. Wie geht eine Familie mit dem Verlust von zwei Söhnen um?
ALZEY – Drei Kinder haben Sandra und Jens Laick, zwei davon sind Sternenkinder. Es ist ein kalter Dezember-Tag 2010, als Toni auf die Welt kommt. Es ist kurz vor Mitternacht, und Toni ist schon zwei Wochen tot. Im Oktober 2011 erblickt Mats das Licht der Welt: Er schlägt die Augen auf, schreit kurz und lebt zwei Stunden, bevor er sich mit einem letzten Seufzer verabschiedet. Acht Jahre später: Während Hannes bald in die Grundschule kommt, wohnen Toni und Mats „beim Regenbogen“, da ist sich Sandra Laick sicher. Wenn die Familie die beiden besucht, geht sie auf die Alzeyer Sternenwiese.
Sie sitzt ruhig am Tisch, trinkt Tee und spricht offen über die schlimmste Zeit ihres Lebens. Es ist eine Routineuntersuchung in der 21. Schwangerschaftswoche, als die Ärzte feststellen: Tonis Herz schlägt nicht. Für das Paar aus Mauchenheim bricht die Welt zusammen. Gleich am nächsten Tag müssen die Wehen künstlich eingeleitet werden. Sandra Laick erleidet eine Totgeburt. Sie erinnert sich genau an die Stunden im Krankenhaus, an die vier Tabletten, die vielen Schmerzen und das Gefühlschaos. Von einer Sternenwiese hat sie bis zu diesem Dezembertag nur aus der Zeitung gehört.
„Ich wurde gleich am nächsten Tag entlassen“, erzählt Sandra Laick. Toni ist keine 500 Gramm schwer. Damit gilt für ihn die gesetzliche Bestattungspflicht nicht. Der Routine folgend wäre der Körper über die Pathologie entsorgt worden. Das will das Ehepaar Laick nicht. Es will sein Kind zu Grabe tragen, dem Körper eine Ruhestätte geben und einen Ort der Erinnerung schaffen. Das Alzeyer Bestattungsinstitut Sulfrian stellt den Kontakt zur Sternenwiese her.
Seit 2004 gibt es eine Sternenwiese auf dem Alzeyer Friedhof: eine Grab- und Gedenkstätte für Kinder, die unter 500 Gramm wiegen. Initiatorin der Alzeyer Sternenwiese ist Diana Haus, die eine Fehlgeburt erlitten hat und wissen will, was mit dem Leichnam passiert. Sie wendet sich an das Gleichstellungsbüro (damals Frauenbüro) des Landkreises. „Für uns war das ein Frauenthema“, erklärt Katharina Nuß von der Kreisverwaltung. Sie nimmt sich des Themas sofort an. Gemeinsam mit dem Hospizverein „Dasein“ setzt sie sich dafür ein, dass eine Wiese auf dem Friedhof den Sternenkindern gewidmet wird. „Auf der Sternenwiese gibt es einen Trauerweg, der an die vier Elemente angelehnt ist und die Phasen der Trauer widerspiegelt“, erklärt die Gleichstellungsbeauftragte. Da gibt es den Feuerberg: aufeinandergestapelte Schiefersteine, die das Grauen repräsentieren, die tiefste Trauer und die Schmerzen. Es gibt das Tal der Tränen. Der Seelenflügel ist ein Klangspiel, bei dem der Wind die sanften Töne über den Friedhof trägt. Die Erde formt einen runden Kreis in der Mitte der Wiese, dort sind die Sternenkinder begraben. „Also Kinder, die nicht bleiben konnten“, sagt Nuß.
Am Anfang gehen Sandra Laick und ihr Mann Jens täglich auf die Sternenwiese. Für sie ist es ein Ort, an dem sie Gaben ablegen können, wo sie zur Ruhe kommen. Sandra Laick geht auch alleine oder mit Freunden zur Sternenwiese. Es vergehen Monate der schweren Trauer – Wellen der Wut. Plötzlich die Nachricht: Sie ist wieder schwanger.
„Das war zwar mein Wunsch, aber es war vor allem ein Schock, dass es so schnell ging“, erinnert sie sich. Ihre Frauenärztin macht ihr Mut. Doch ab der 21. Woche stellen die Ärzte mehr und mehr Auffälligkeiten fest. „Uns war klar, wir wollen dieses Kind bekommen, egal, welche Geschichte es mitbringt.“ In der Uniklinik kommt die Gewissheit: Mats hat Trisomie 18, eine Genmutation, bei der die Wahrscheinlichkeit sehr groß ist, dass das Kind noch während der Schwangerschaft stirbt. „Von dem Moment an war nur noch ich der Patient, nicht mehr mein Kind“, sagt Laick. „Ich kam mir vor wie ein Forschungsobjekt.“ Hilflos und überfordert ruft das Paar beim Kinderhospiz Bärenherz in Wiesbaden an und wird sofort aufgenommen. Sterbebegleitung für Mutter und Vater, die ihr Kind verlieren werden: Sie bemalen einen Sarg und bereiten sich aktiv darauf vor, dass es bald vorbei sein wird. Als Mats auf die Welt kommt und stirbt, ist schon für alles gesorgt: Die Trauerfeier startet wieder auf der Sternenwiese, doch dieses Mal geht es weiter zum Familiengrab. Sandra Laick verliert Mats in der 30. Woche, er wiegt mehr als 500 Gramm und wird daher regulär bestattet.
Zweimal im Jahr findet auf der Sternenwiese eine Gedenkfeier statt: im Winter und im Sommer. Dabei wird eine Urne vergraben, in der die Sternenkinder in Watte verpackt sind. Mal sind es 40, mal sind es 80 Embryonen oder Föten, die ihre letzte Ruhe finden. „Zur Gedenkfeier kommen nicht nur Menschen, die an dem Tag ihr Sternenkind begraben. Es kommen auch Leute, die vor Jahren, Jahrzehnten ihr Kind verloren haben“, erzählt Nuß. Mit Musik, Ritualen und der auf Blütenblättern gebetteten Urne könnte man fast sagen: Das ist schön. Aber gibt es schöne Beerdigungen? „Ja, die gibt es auf jeden Fall“, macht Pfarrerin Anja Krollmann klar, die die Beisetzung und Gedenkfeier leitet. „Der Friedhof wird zum Ort der Begegnung“, sagt Nuß, denn: „Die Trauer begleitet die Menschen ein Leben lang. Es ist egal, ob die Eltern ihr Kind in der dritten Woche oder nach 25 Jahren verlieren. Es liegt nicht an uns, zu bewerten, wie traurig jemand sein darf.“
Die ersten beiden Kinder der Laicks konnten nicht auf dieser Welt bleiben. Die Angst bei der dritten Schwangerschaft ist dabei umso größer. „Die war nicht geplant. Es ist einfach passiert – und es war die Hölle“, sagt Sandra Laick. Das Paar hangelt sich von einer zur nächsten Woche. Die Angst sitzt im Nacken, dass bald wieder Komplikationen, Probleme, Schmerzen auftreten, dass bald wieder der Tod an die Tür klopft. Doch es kommt anders. Am 27. September 2012 kommt Hannes zur Welt – völlig gesund.
Sandra Laick hat ihre Trauer in Energie verwandelt. Die Sternenwiese hat ihr dabei geholfen. Ihre Sternenkinder haben ihren Werdegang, ihren Freundeskreis, ihr ganzes Leben geprägt. Die Frage „Was wäre, wenn?“ stellt sie schon lange nicht mehr. „Dieses Gedankenkarussell – das führt ja zu nichts.“ Auf die Sternenwiese gehen sie weiterhin: Mutter, Vater und auch Hannes, um eine Kerze zu entzünden. „Ich finde es schön, wenn ein Licht brennt“, sagt Sandra Laick. Hannes ist mittlerweile sechs Jahre alt. Wenn er ein Bild seiner Familie malt, sind auf dem Blatt fünf Menschen zu sehen. Zwei davon wohnen beim Regenbogen.